Die Zukunft der Lyrik | 25.–26.11.2021
›Zeit‹ scheint im Gedicht anders zu funktionieren als in der Prosa oder Dramatik. Durs Grünbein spricht von einer Art »Gegenzeit des Gedichtes.« Doch gibt es sie überhaupt, die Zeit im Gedicht? Zuweilen wird das bezweifelt. In dem Band Gedichtanalyse von Jochen Strobel heißt es dazu: »[E]s werden sich überhaupt keine Zeitrelationen benennen lassen« und deshalb kann »von einer Handlung, von Ereignissen und damit auch zeitlichen Abfolgen« nicht die Rede sein. Die Prädominanz eines ›Augenblick-Paradigmas‹ sowie die Rede von der ›Evokation von Bildern‹ eines Gedichtes trägt der Vorstellung einer Still-Stellung und Verdichtung von Zeit Rechnung.
Doch Tempus-Grammatik, Temporalstilistik stellen ebenso wie rekursive Elemente des Rhythmus oder im Lautstand, wie Enjambements und Zäsuren lyrische Sprachbewegungen dar, die Zeit thematisieren und den Modus von Zeit verändern, beschleunigen oder entschleunigen, Rück- und Gegenläufigkeiten bewirken, Erinnerungen verkörpern und in die Zukunft vorausweisen.
Die Zeitlosigkeit des Gedichtes ist eine poetische Illusion. Es wird versucht, sie mit aller Macht herzustellen (Benn), und die Forschung folgt diesem Versuch oft unhinterfragt. Neben der oft unhinterfragten Dominanz des Präsentischen findet man allenfalls noch Hinweise auf die Darstellung respektive Vergegenwärtigung von Vergangenem, wie in der Ballade. Diese wie auch das Prosagedicht bewegen sich jedoch viel stärker im Bereich des Narrativen, sodass beide Beispiele für eine Erkenntnis, wie Gedichte Zeitlichkeit herstellen oder unterlaufen kann, nur bedingt fruchtbar zu machen sind.
Die Rede des zeitlosen Gedichtes verstellt somit Politisierungs- und Historisierungsmöglichkeiten, die der Lyrik inhärent sein dürften. Gerade mit Blick auf die Zukunftsdebatten des sogenannten Anthropozäns sollte es überraschen, wenn sich die Lyrik der Gegenwart den Fragen von Geschichte, aber vor allem von Zukunft und Zukünftigkeit nicht stellt.
Scheint das Vergangene im Horizont der Forschung zu liegen, ist die Zukunft der lyrischen Dichtung ein weitaus größeres Desiderat. Beobachtungen wie die, dass Zukünftiges über das poeta vates Motiv und prophetische Konzepte in das Gedicht eingetragen werden, akzentuieren zwar, dass diese Formen in der Moderne aktualisiert werden, doch eine größer angelegte Auseinandersetzung um die Darstellung von Zukunft in der Lyrik nicht. Doch bereits Horaz entwirft in seinen Carmen 3,30 ein poetisches Zukunftsszenario, was sein eigenes Gedicht apostrophiert. Zukunft ins Gedicht schreibt sich über seine kommende Wertschätzung ein. Auch Hölderlin beschäftigt sich über die Logik des Andenkens, so auch sein gleichnamiges Gedicht, mit einem entsprechenden Möglichkeitsraum im Gedicht. Die Beschäftigung mit Zukünftigem ist der Poesie nicht neu. Über diese Tradition geraten Fragen der Institutionen und Praktiken einer Zukunft der Lyrik in den Blick, die zugleich auch immer in einer Verbindung zur Gegenwart und Vergangenheit stehen (Motiv der Enkel, Kanonbildung). Wohl ist dabei auffällig, dass die hier entworfene Zukunft ihren Grund im Subjekt oder Gedicht selbst hat und stark über den Topos von Erinnerbarkeit läuft. Findet sich neben dem prophetischen Sprechen und einer in die Zukunft verlagerten Erinnerbarkeit alternative Formen eines temporalen Möglichkeitsdenken? Den hier aufgeworfenen Fragen will sich der Workshop stellen und nach möglichen theoretischen Konzepten, aber auch Beispielen suchen. Gibt es eine spezifische Metaphorik der Zukunft? Produziert Lyrik, trotz aller Bemühungen, Zeitlichkeit zu eliminieren, nicht immer einen Überschuss, der sich auch auf das Zukünftige richtet? Trägt die Form zur Entzeitlichung bei oder kann sie der latent vorhandenen Zeitlichkeit allererst Form geben?