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Auerbach Lecture | 19.06.2023 | 18 Uhr

Ansgar Mohnkern (Deutsche und Allgemeine Literatur, Amsterdam): Erzählen. Beschreiben. Aneignen. Über den Realismus

Abstract

Georg Lukács bekannte Unterscheidung von Erzählen und Beschreiben ist so einschlägig wie sie zugleich problematisch ist. So seien beide Modi literarischer Repräsentation jeweils an einen je anderen Stand in der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften gebunden: Hier das »Mitleben« (Balzac, Tolstoi) des früheren realistischen Erzählens in einer noch dynamisch in der Entstehung sich befindenden kapitalistischen Welt, dort die zum »Beobachten« erstarrte Registration einer »fertigen bürgerlichen Gesellschaft« (Flaubert, Zola). Es mag zwar richtig sein, dass zwischen Balzac und Zola eine Spur der ›Verfestigung‹ literarischen Erzählens zu beobachten ist, doch ist gerade Lukács Insistieren auf der Idee eines »kritischen Beobachters«, zu dem spätere, zum Naturalismus neigende Literaten neigen, eine problematische, suggeriert sie doch eine Abständigkeit von der Institution wie auch der Praxis von Literatur, welche in der Lage sei, ›von außen‹ auf die Verhältnisse zu schauen. Vieles spricht indessen dafür, dass es sich anders verhält, dass nämlich zumal realistische Literatur selbst so etwas wie der Agent eines Systems ist, welches – nicht in der Entgegensetzung, sondern im Zusammenspiel von Erzählen und Beschreiben – keineswegs abständig die kapitalistische Ordnung kommentiert und seziert, sondern vielmehr selbst in sie eingreift, ja sie selbst nachahmt oder gar sie selbst ist. In diesem Sinne gälte es prüfen, wie und unter welchen Bedingungen der literarische Realismus im Kern dasselbe Ziel verfolgt wie eine beschleunigt um sich greifende kapitalistische Ordnung: die Umwandlung von ›Welt‹ in Eigentum. Der Vortrag geht in diesem Sinne also der Frage nach: Ist die Literatur des 19. Jahrhundert eine Praxis von Aneignung, von Appropriation? Ausgangspunkt zur Diskussion liefern Beispiele aus dem Erzähltexten Flauberts, Melvilles, Stifters und Tolstois.

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