Die Wirklichkeit der Endlichkeit. Über eine Allianz von Melancholie und Kritik
Die kritischen Theorien der Gegenwart – von den Gender und Queer Studies bis hin zur politischen Ökologie – sehen ihren Einsatz in das herrschende Welt- und Selbstverständnis nicht zuletzt darin, das, was sich als Natur gibt, als soziale und damit historisch gewordene Konstruktion auszuweisen. Die Denkfigur, die im Zentrum des Vortrags steht, setzt hingegen umgekehrt an: Sie liest die Konstruktionen der Geschichte im Zeichen ihrer Naturverfallenheit, das heißt als ein Vergängliches. Unter der Überschrift „Naturgeschichte“ war diese heute etwas in Vergessenheit geratene Denkfigur in der frühen kritischen Theorie, insbesondere bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, von zentraler Bedeutung. Aus der Idee, die Konstruktionen der Geschichte als Chiffren ihrer eigenen Vergängnis zu lesen, erklärt sich auch die enge Beziehung, die die frühe kritische Theorie zwischen Melancholie und Kritik sah. Auch diese Allianz ist heute etwas in Vergessenheit geraten. Wo Melancholie gegenwärtig verhandelt wird, wird sie zumeist in der Linie Sigmund Freuds in die Nähe der Depression gerückt und als eine Pathologie kritisiert, mit der nicht nur eine problematische Internalisierung von Konflikten, sondern auch eine narzisstische Abkehr von der Welt einhergeht. Die kritische Melancholie ist hingegen emphatisch weltzugewandt. Der melancholische Blick, dem sich die geschichtliche Welt im Licht ihrer eigenen Vergängnis darbietet, löst den Schein des Stillstands in den Verhältnissen auf und öffnet das Gewordene auf ein Werden. Die Perspektive auf Veränderung ergibt sich hier nicht trotz, sondern wegen der Einsicht in die Endlichkeit alles Seienden.
Juliane Rebentisch
Vita
Juliane Rebentisch studierte Philosophie und Germanistik an der Freien Universität Berlin; die Promotion erfolgte 2002 an der Universität Potsdam, die Habilitation 2010 an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. Sie ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und Regular Visiting Professor am German Department der Princeton University. Von 2015 bis 2018 war sie Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, von 2014 bis 2020 Vizepräsidentin der HfG Offenbach. Seit 2014 ist sie Mitglied des Kollegiums am Frankfurter Institut für Sozialforschung. 2017 erhielt sie den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg, ihre jüngste Buchveröffentlichung „Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt“ (Suhrkamp, 2022) ist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 in der Kategorie Sachbuch (Shortlist) nominiert worden.
Als Distinguished Fellow am Auerbach-Institut nahm Juliane Rebentisch an den Fellowdiskussionen und Workshops teil. Für ein sowohl akademisches als auch städtisches Publikum hielt sie im Rahmen der Auerbach Lectures eine „Summer Lecture“ zum Thema „Die Wirklichkeit der Endlichkeit. Über eine Allianz von Melancholie und Kritik“ im Museum Ludwig; für Studierende bot sie eine Masterklasse zum Thema „Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt“ an.
Forschungsschwerpunkt
Ethik,
Ästhetik
Politische Philosophie
Publikationen (Auswahl)
Monografien:
Rebentisch, Juliane 2022: Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt. Berlin: Suhrkamp.
Rebentisch, Juliane 2020: Camp Materialism: Natural History in Jack Smith; Addendum: A Note on Camp Ridiculousness / Über eine materialistische Seite von Camp. Naturgeschichte bei Jack Smith; Anhang: Eine Überlegung zu Camp Ridiculousness. Köln, Berlin, New York: Galerie Buchholz.
Rebentisch, Juliane 2013: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung. Hamburg: Junius.
Rebentisch, Juliane 2012: Die Kunst der Freiheit. Zur Dialektik demokratischer Existenz. Berlin: Suhrkamp.
Rebentisch, Juliane 2003: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Herausgeberschaften:
Khurana, Thomas und Dirk Quadflied, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch, Dirk Setton (Hg.) 2018: Negativität. Kunst, Recht, Politik. Berlin: Suhrkamp.
Rebentisch, Juliane (Hg.) 2017: Denken und Disziplin. Workshop der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik (2017). URL: www.dgae.de/kongresse/das-ist-aesthetik/
Menke, Christoph und Juliane Rebentisch (Hg.) 2010: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus. Berlin: Kadmos.
Diederichsen, Diedrich und Christine Frisinghelli, Christoph Gurk, Matthias Haase, Juliane Rebentisch, Martin Saar, Ruth Sonderegger (Hg.) 2006: Golden Years. Materialien und Positionen zur queeren Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974. Graz: Camera Austria.
Zeitschriftenartikel:
Rebentisch, Juliane und Felix Trautmann 2017: „Zerrbilder der Gleichheit. Demokratie und Massenkultur nach Tocqueville“, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung (1/2017), 99-117.