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Die Wirklichkeit der Endlichkeit. Über eine Allianz von Melancholie und Kritik

Die kritischen Theorien der Gegenwart – von den Gender und Queer Studies bis hin zur politischen Ökologie – sehen ihren Einsatz in das herrschende Welt- und Selbstverständnis nicht zuletzt darin, das, was sich als Natur gibt, als soziale und damit historisch gewordene Konstruktion auszuweisen. Die Denkfigur, die im Zentrum des Vortrags steht, setzt hingegen umgekehrt an: Sie liest die Konstruktionen der Geschichte im Zeichen ihrer Naturverfallenheit, das heißt als ein Vergängliches. Unter der Überschrift „Naturgeschichte“ war diese heute etwas in Vergessenheit geratene Denkfigur in der frühen kritischen Theorie, insbesondere bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, von zentraler Bedeutung. Aus der Idee, die Konstruktionen der Geschichte als Chiffren ihrer eigenen Vergängnis zu lesen, erklärt sich auch die enge Beziehung, die die frühe kritische Theorie zwischen Melancholie und Kritik sah. Auch diese Allianz ist heute etwas in Vergessenheit geraten. Wo Melancholie gegenwärtig verhandelt wird, wird sie zumeist in der Linie Sigmund Freuds in die Nähe der Depression gerückt und als eine Pathologie kritisiert, mit der nicht nur eine problematische Internalisierung von Konflikten, sondern auch eine narzisstische Abkehr von der Welt einhergeht. Die kritische Melancholie ist hingegen emphatisch weltzugewandt. Der melancholische Blick, dem sich die geschichtliche Welt im Licht ihrer eigenen Vergängnis darbietet, löst den Schein des Stillstands in den Verhältnissen auf und öffnet das Gewordene auf ein Werden. Die Perspektive auf Veränderung ergibt sich hier nicht trotz, sondern wegen der Einsicht in die Endlichkeit alles Seienden.

Juliane Rebentisch

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