Die Entwicklung von Finanzgeschäften lässt sich nicht ohne eine Betrachtung von Fabulierkünsten erfassen, und die diskursiven Produktionen kapitalistischer Ökonomie gehören ins Arbeitsfeld einer Wissenschaft, die sich mit der systematischen Verfertigung von Nicht-Wissen befasst. Dabei geht es nicht bloß um geschäftliche Kosmetik oder Betrug, um ertragreichen Unsinn oder Verfälschungen, um Humbug, Bullshit oder Schwindelei. Im (finanz-)ökonomischen Genre der Fabulation sollte man vielmehr eine besondere Variante aus der Geschichte des Wahrsprechens erkennen. An einem prominenten literarischen Beispiel, das in die Finanzkrisen des 19. Jahrhunderts zurückführt, möchte der Vortrag zeigen, auf welche Weise das Wahrheitsspiel des Kapitalismus von einer pseudologischen Struktur geprägt ist.
Joseph Vogl
Vita
Joseph Vogl war von 2006 bis 2023 Professor für Neuere deutsche Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seit 2007 regelmäßig Gastprofessor an der Princeton University. Er studierte moderne Literatur, Philosophie, Geschichte und Linguistik in München und Paris (Promotion 1990, Habilitation 2000) und lehrte und forschte u.a. an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der University of California, Berkeley, der Indiana University Bloomington und dem IFK (Wien). Von 1998 bis 2006 war er Professor für „Theorie und Geschichte der künstlichen Welten“ an der Fakultät für Medienwissenschaft der Bauhaus-Universität Weimar. Für sein Werk erhielt er mehrere Auszeichnungen, u.a. Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Sachbuch (Der Souveränitätseffekt), Günther-Anders-Preis für kritisches Denken (2022). Von ihm erschienen ist u.a. Orte der Gewalt. Kafkas literarische Ethik (1990/2010), Poetologien des Wissens um 1800 (Hrsg., 1999), Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen (2002), Über das Zaudern (2007), Das Gespenst des Kapitals (2010), Der Souveränitätseffekt (2015), Senkblei der Geschichten (zus. mit Alexander Kluge, 2020) und Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart (2021).
Joseph Vogl hielt sich im Wintersemester 2023/24 als Distinguished Fellow am Erich Auerbach Institute for Advanced Studies der Universität zu Köln auf. Im Rahmen seines Fellowships und der Auerbach Lectures hielt er vor universitärem und außeruniversitärem Publikum eine „Distinguished Lecture“ zum Thema „Fabulieren, Finanzieren“. Zudem diskutierte er in einem Seminar für Studierende und Doktorand*innen der Universität zu Köln mit den Teilnehmenden ausgewählte Passagen aus Franz Kafkas Romanfragment Das Schloss.
Forschungsschwerpunkt
Geschichte und Theorie des Wissens
Geschichte von Finanzen, Macht und Risiko in der Neuzeit
Diskurs- und Medientheorie
Literaturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts
Publikationen (Auswahl)
Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990.
Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, hg. v. Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 1994.
Poetologien des Wissens um 1800, hg. v. Joseph Vogl, München 1999.
Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002.
Über das Zaudern, Berlin-Zürich 2007.
Soll und Haben. Fernsehgespräche, Berlin-Zürich 2009 (mit Alexander Kluge).
Das Gespenst des Kapitals, Berlin-Zürich 2010.
Der Souveränitätseffekt, Zürich-Berlin 2015.
Senkblei der Geschichten. Gespräche, Zürich-Berlin 2020 (mit Alexander Kluge).
Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart, München 2021.