„We are such stuff as dreams are made of …” (Prospero)
In der Philosophie hat der Begriff der Virtualität eine sonderbare Geschichte. Gottfried Wilhelm Leibniz verwendet ihn in seinen Nouveaux Essais über den menschlichen Verstand zur Bezeichnung einer spezifisch ontologischen Dimension gleichsam „unbewusster“ Perzeptionen. Den Gedanken greift Henri Bergson im Kontext seines Entwurfs eines Zeitbewusstseins auf, später transponiert er ihn in die Regionen des Gedächtnisses und des élan vital. In seiner letzten größeren Arbeit über die zwei Quellen der Moral und der Religion wird das Virtuelle dann auch herangezogen, um etwas über die Ursprünge der (z.B. mythologischen) Fiktion auszusagen: Bergson spricht von einer „fonction fabulatrice“.
Die Virtualität steckt nicht nur im Fiktiven und erläutert ihre Fabrikation; sie kann auch fiktional zum Thema gemacht werden (z.B. indem die Entstehungsbedingungen der ästhetischen Produktion in ihr auf einen blinden Fleck bezogen werden). Wenn dies geschieht, implodiert die traditionelle Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Realen – oder es entsteht eine zweite Sinnebene, welche die ontologische Trennung (real/fiktiv) unterläuft und auf die Inaktualität und Potentialität des Virtuellen setzt. In diesem Sinne spricht Griselda Pollock vom „virtual feminist museum“ oder Rosalind Krauss vom „optical unconscious“. Und Erich Auerbach verlässt das Terrain des realistischen Romans und wendet sich „to the lighthouse“ (Virginia Woolf), wenn er erklärt: „daß ein Standpunkt außerhalb des Romans, von dem aus die Menschen und Ereignisse innerhalb desselben beobachtet werden, gar nicht zu existieren scheint […].“ Das bedeutet nicht, dass zwischen dem Fiktiven und dem Realen keine Unterschiede mehr bestehen. Stattdessen könnte ich womöglich sagen, dass sie sich vervielfältigen.
Marc Rölli
Vita
Marc Rölli studierte Philosophie, indische Philologie und Religionswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und an der FU Berlin (1991-1997). Anschließend promovierte er an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über Gilles Deleuze und den transzendentalen Empirismus (1998-2002). Am Institut für Philosophie der TU Darmstadt war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und anschließend als Vertretungsprofessor tätig (2002-2011). Dort habilitierte er sich mit einer Arbeit zur Kritik der anthropologischen Vernunft (2008). Nach ordentlichen Professuren an der Fatih University Istanbul und der Zürcher Hochschule der Künste erhielt er einen Ruf an die Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig. Dort lehrt er seit 2015 als Professor für Philosophie und übernahm 2020 das Amt des Prorektors für Hochschulentwicklung und Forschung.
Forschungsschwerpunkt
Geschichte des anthropologischen Wissens (18.-21. Jh.)
Philosophische Kapitalismus- und Demokratietheorie
Amerikanischer Pragmatismus
Französische Philosophie der Differenz
Phänomenologie und Strukturalismus
Ethnografische Methodenreflexion
Epistemologische Pluralismusforschung
Publikationen (Auswahl)
Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia + Kant 2003, 2012 und in engl. Sprache, übers. v. Peter Hertz-Ohmes, Edinburgh University Press 2016, 2018 und als e-book
Mikropolitik. Eine Einführung in die politische Philosophie von Félix Guattari und Gilles Deleuze, Wien: Turia + Kant 2010 und als e-book (mit Ralf Krause)
Kritik der anthropologischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2011
Immanent denken, Wien: Turia + Kant 2018
Die Macht der Wiederholung, Wien: Turia + Kant 2019