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Forschungsprojekt

Virtualität der Fiktion – Fiktion der Virtualität

„We are such stuff as dreams are made of …” (Prospero)


In der Philosophie hat der Begriff der Virtualität eine sonderbare Geschichte. Gottfried Wilhelm Leibniz verwendet ihn in seinen Nouveaux Essais über den menschlichen Verstand zur Bezeichnung einer spezifisch ontologischen Dimension gleichsam „unbewusster“ Perzeptionen. Den Gedanken greift Henri Bergson im Kontext seines Entwurfs eines Zeitbewusstseins auf, später transponiert er ihn in die Regionen des Gedächtnisses und des élan vital. In seiner letzten größeren Arbeit über die zwei Quellen der Moral und der Religion wird das Virtuelle dann auch herangezogen, um etwas über die Ursprünge der (z.B. mythologischen) Fiktion auszusagen: Bergson spricht von einer „fonction fabulatrice“.

Die Virtualität steckt nicht nur im Fiktiven und erläutert ihre Fabrikation; sie kann auch fiktional zum Thema gemacht werden (z.B. indem die Entstehungsbedingungen der ästhetischen Produktion in ihr auf einen blinden Fleck bezogen werden). Wenn dies geschieht, implodiert die traditionelle Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Realen – oder es entsteht eine zweite Sinnebene, welche die ontologische Trennung (real/fiktiv) unterläuft und auf die Inaktualität und Potentialität des Virtuellen setzt. In diesem Sinne spricht Griselda Pollock vom „virtual feminist museum“ oder Rosalind Krauss vom „optical unconscious“. Und Erich Auerbach verlässt das Terrain des realistischen Romans und wendet sich „to the lighthouse“ (Virginia Woolf), wenn er erklärt: „daß ein Standpunkt außerhalb des Romans, von dem aus die Menschen und Ereignisse innerhalb desselben beobachtet werden, gar nicht zu existieren scheint […].“ Das bedeutet nicht, dass zwischen dem Fiktiven und dem Realen keine Unterschiede mehr bestehen. Stattdessen könnte ich womöglich sagen, dass sie sich vervielfältigen. 

Marc Rölli

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