Wachsames Lesen im Verlag. Mediale Praktiken der Vigilanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die Zeit, in der wir leben, wurde jüngst als ‚Age of Attention‘ charakterisiert. Digitale Technologien konkurrieren um unsere Aufmerksamkeit und nehmen erheblichen Einfluss darauf, wie und wofür wir uns interessieren. Eine wesentliche Herausforderung unserer Gegenwart besteht entsprechend darin, auf individueller wie kollektiver Ebene Rezeptionskulturen der Eigenverantwortlichkeit zu etablieren. Damit werden in den aktuellen Gegenwartsdiagnosen Rezeptionsmodelle ventiliert, die im Zuge der Demokratisierung des Lesens im 19. Jahrhundert akut wurden. Mit der Herausbildung eines modernen Druckmarktes konkurrierten literaturproduzierende und -vermittelnde Akteure wie Autoren, Verleger, Herausgeber und Redakteure in kollaborativen Formationen und in einem komplexen Zusammenspiel mit dem spätabsolutistischen Überwachungsregime verstärkt um die Aufmerksamkeit einer anonymen Leseöffentlichkeit. Durch ein vielgestaltiges und spekulativ angelegtes Medienangebot, bei dem sie zensurbedingte Sensibilitäten für Latenzen einkalkulierten, suchten sie die Vorlieben, Interessen und Bedürfnisse ihrer Leserschaften zu eruieren und beteiligten sich damit maßgeblich an der Kultivierung selbstbestimmter Rezeptionsformen. Hier setzt mein Forschungsprojekt an und stellt die aufmerksamkeitslenkenden Strategien ins Zentrum, die von Akteur:innen des Verlagswesens im papiernen Zeitalter der Aufmerksamkeit erprobt wurden: Wie reagierten Verleger auf das Aufmerksamkeitsverhalten einer tendenziell hermeneutisch hellhörigen Leserschaft? Was verraten redaktionelle Textumgangsformen und verlegerische Entscheidungen über das zeitgenössische Lesepublikum und seine Rezeptionsgewohnheiten? Und wie begünstigten schließlich mediale Praktiken der Vigilanz eigenverantwortliche Lektüren? Diesen Fragen möchte ich in meiner Zeit am Erich-Auerbach-Institut im interdisziplinären Austausch nachgehen.
Kristina Mateescu
Vita
Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte in Stuttgart hat Kristina Mateescu 2021 am germanistischen Seminar der Universität Heidelberg mit einer Arbeit zu „Engagement und esoterische Kommunikation unterm Hakenkreuz“ promoviert. Von 2016 bis 2021 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „‚Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik‘? – Internationale akademische Beziehungen Deutschlands von 1933 bis 1945“ zuerst an der Universität Stuttgart und anschließend an der Universität Heidelberg beschäftigt. Seit Herbst 2023 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbieterin im Teilprojekt „Wachsames Lesen. Hermeneutische Hellhörigkeit in der literarischen Vigilanzkultur“ des 19. Jahrhunderts des Münchner SFBs „Vigilanzkulturen“ und beschäftigt sich in diesem Rahmen mit der verlegerischen und redaktionellen Praxis im Vormärz.
Forschungsschwerpunkt
Literatur und Zensur
Fach- und Wissenschaftsgeschichte
Intellectual History
Tagebuchforschung
Gegenwartsliteratur
Publikationen (Auswahl)
Engagement und esoterische Kommunikation unterm Hakenkreuz. Am Beispiel des Hochland-Kreises. Berlin, Boston 2022.
Vorder- und Hinterbühnen der Germanistik. Das Verhältnis von öffentlicher und privater Kommunikation aus fachgeschichtlicher Perspektive. In: Scientia Poetica 25 (2021), S. 225–424; 26 (2022), S. 361–504; 27 (2023), S. 179–234 (zus. hg. mit Andrea Albrecht, Lutz Danneberg, Helene Kraus und Carlos Spoerhase).
Schreibszenen der Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Die Praxeologie der Schreibszene. Schreiben und Lesen als Raum- und Beziehungspraxis, hg. v. Yvonne Al-Taie und Jennifer Claire. Heidelberg 2025 (gemeinsam mit Tilman Venzl und Charlotte Krick). [im Druck]
Neurechte Leseübungen. Esoterische Kommunikationsstrategien im Umfeld der Sezession. In: Weimarer Beiträge 70, 1 (2024), S. 143–153.
Dystopien aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Am Beispiel von Theresia Enzensbergers Auf See. In: Text trifft Methode, hg. v. Andrea Albrecht und Franziska Bomski. Berlin, Boston 2025, S. 243 - 266.
Ritualmordprozesse. Publizistische und literarische Strategien zur Abwehr des Antisemitismus. In: Normativität in Recht und Literatur, hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf. Stuttgart 2025 [im Druck]
„Jeder, der dabei gewesen ist, weiß“? Heinz Otto Burgers apologetischer Rundbrief (1963) in Reaktion auf Richard Trexlers Kritik. In: Scientia Poetica 27 (2023), S. 179–206.
Beyond the 'Last Man' Narrative: Notes on Thomas Glavinic´s Night Work (2008). In: New Perspectives on Contemporary German Science Fiction, hg. v. Ingo Cornils and Lars Schmeink. Cham 2022, S. 247–266.