„Was die Welt im Innersten zusammenhält“
Narrative Kohärenzbildung jenseits von Kausalität und Chronologie
Geschichten stiften Kohärenz. Diese Bestimmung der narrativen „Welt“ durch einen postulierten Zusammenhang ihrer einzelnen Elemente ist nicht nur für das literarische Erzählen erstaunlich dominant, sie hat dem Modell der „Narrative“ auch einen beeindruckenden Siegeszug durch die Geschichts- und Sozialwissenschaften beschert, verspricht doch eine so definierte Form des Erzählens, chronologische und kontinuierliche Ordnung ins Chaos kontingenter Ereignisse zu bringen, Sinn zu stiften und auf diese Weise Stabilität auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene zu erzeugen.
Seine philosophische Dignität bezieht dieses Versprechen zunächst aus dem Wegfall transzendentaler Referentialisierbarkeit von innerweltlichen Phänomenen und der damit verbundenen Abkehr vom Schema der Repräsentation mit der Wende zur Neuzeit. Mit Leibniz, so Blumenbergs pointiertes Diktum, beginnt ein Denken der Immanenz, das nicht nur das Erzählen, sondern den modernen Begriff des Wirklichen überhaupt entscheidend prägt. Von nun an liegt der Fokus bei Fragen nach der Verfasstheit der Wirklichkeit auf der horizontalen statt der vertikalen Verknüpfung, auf der Konsistenz der Reihung, auf der Logik der Verkettung, auf dem, was Blumenberg im Roman-Essay als „die Einstimmigkeit der Gegebenheiten untereinander“ bezeichnet, „ihr gleichsam horizontaler Konnex“. Diese Wende zum „Operativen Symbolismus“ (Krämer) im 17. Jahrhundert, begünstigt den Aufstieg der „welthaltigen“ Gattung Roman als neuen Referenzpunkt der literarischen Theoriebildung ab dem 18. Jahrhundert. Dabei ist auffällig, dass Kohärenz sowohl im Kontext der ästhetischen als auch der philosophischen und historischen Diskurse von Wolff über Gottsched bis zu Blanckenburg fast durchgängig mit Kausalität, Chronologie und Progression gleichgesetzt wird, auch wenn „die Bemühung der Vernunft, im Chaos der Geschichte ein Licht anzuzünden“ sich dabei mit dem Problem konfrontiert sieht, „das ganze Gewebe von Ursachen zu entwirren“ (Forster).
Dieses Erbe der Aufklärung, Zusammenhänge primär als kausal motiviert und chronologisch geordnet zu verstehen, begleitet die Narratologie und den an sie anschließenden „narrative turn“ der Soziologie bis heute. Noch die aktuelle Kritik am Erzählen als Darstellungsmittel der Gegenwartsdiagnostik kritisiert am „storytelling“ nicht zuletzt die Vereinfachung, die aus der Zwangsläufigkeit der Zusammenhangsbildung resultiert und verweist auf die Unterkomplexität linearer Erzählmodelle angesichts der Gleichzeitigkeit sich überlagernder Krisen (Amlinger). Dabei ist die Soziologie seit ihren Anfängen – oft im methodischen Austausch mit der Historiographie oder den Naturwissenschaften – Schauplatz verschiedenster Versuche gewesen, Verfahren zu entwickeln, die es ermöglichen, gesellschaftliche Zusammenhänge jenseits einer kausalen Logik chronologischer Abfolge zu theoretisieren. Gegen das kausal geordnete Konsistenzdenken operieren Kategorien wie „Widerspruch,“ „Dissonanz“ oder „Konflikt“ von Marx über Simmel und Weber bis hin zu Luhmann sowie auf besondere Weise die „Devianz“ bei Durkheim. Die intensiven Debatten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts über den Status statistischer Darstellungen im Wissen über die Gesellschaft zeigen darüber hinaus deren greifbares Spannungsverhältnis zu den Anforderungen einer sinnhaften Narrativierung der eigenen fachspezifischen Ergebnisse.
Im gleichen Zuge bietet die Literatur selbst reichlich Belege dafür, dass Kausalattributierung der narrativen Welt als Zusammenhangsgarant dem Storytelling keineswegs so natürlich inhärent ist, wie die Theorie in Teilen bis heute suggeriert. Allein mediale und paratextuelle Bedingungen wie Zeitschriften, Inhaltsverzeichnisse und Kapiteleinteilungen bestimmen die Lektürepraktiken und erzeugen zuweilen eine veritable Spannung zwischen einem vermeintlich grundlegenden linearem Lesefluss und narrativen Zusammenhangserwartungen, wie sich beispielsweise anhand der Schriften Jean Pauls oder auch E. T. A. Hoffmanns beobachten lässt. Diese Bedingungen lassen sich problemlos um semantische, syntaktische und formale Verfahren nicht allein in Erzähltexten des 18. und 19. Jahrhunderts erweitern, die auf diese Weise immer wieder Fragen nach den Bindemitteln der Literatur aufwerfen und verhandeln. Wie korrespondieren diese Entwürfe mit den historischen Entwicklungslinien der Vorstellung von Weltzusammenhang zwischen Kausalität, Chronologie, Linearität, aber auch Zirkularität und Gleichzeitigkeit?
Inzwischen finden sich in der neueren Erzählforschung, den Geschichts- und Kulturwissenschaften sowie in den Gesellschaftswissenschaften vermehrt Ansätze und Untersuchungen zu Erzählmodellen jenseits von Kausalität und Chronologie. Caroline Levines „colliding forms of narrative“ als Alternative zur „Causation“, Achim Landwehrs „Chronoference,“ neue Wege der feministischen und queeren Narratologie (Susan Lanser), Jan Albers „unnatural narrative“ sowie Carlos Spoerhases „Mereologie“ seien hier nur als Beispiele genannt.
Ziel der Tagung ist es, aus literaturwissenschaftlicher, soziologischer und geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen, wie die Bindemittel innerer Kohärenzbildung des Narrativen unterschiedliche Text- und Gesellschaftsmodelle der Moderne miteinander verschränken. Was wird beobachtbar, wenn man den Blick dabei von Fragen der Kausalität und Chronologie löst? Welche Kohärenzangebote machen Zufälle, Dissonanzen und Digressionen, wenn man sie konstruktiv für Fragen des textuellen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts versteht? Welche Folgen hat es für den Anspruch narrativer Kohärenz, auch weltlichen Zusammenhalt zu stiften, wenn man beiden die gemeinsame Grundlage in einer kausal-chronologisch angeordneten Einheitlichkeit abspricht? Und was können alternative Modelle des Narrativen zur Analyse historischer Weltentwürfe und der Erfassung der Komplexität aktueller Zeitdiagnostiken beitragen?
Mit Beiträgen von
Sophie-C. Hartisch (Bonn) - Carlos Spoerhase (München) - Martin Endres (Berlin) - Joel Lande (Princeton) - Julian Müller (Lüneburg) - Sina Farzin (Oldenburg) - Maxwell Phillips (Yale) - Rüdiger Campe (Yale) - Bernhard Kleeberg (Erfurt) - Andrea Polaschegg (Bonn) - Eva Stubenrauch (Berlin) - Julia Mierbach (Bonn) und Oswald Egger
Zeit: 15. Dezember 2025 09:00-21:00 Uhr | 16. Dezember 2025 9:30-16:00 Uhr
Ort: Bibliothek Erich Auerbach Institut (3. OG), Weyertal 59 (Rückgebäude), 50937 Köln